Ein ungewöhnlicher Fall & die überraschende Lösung: Coccinella septempunctata
Als Homöopath:innen begegnen wir oft Herausforderungen, die uns an die Grenzen der gängigen Behandlungsansätze führen.
Manchmal führt uns gerade das zu den faszinierendsten Entdeckungen.
Heute möchten wir dir einen besonderen Fall aus unserer Praxis vorstellen, der uns alle überrascht hat – und der zeigt, wie tief Homöopathie wirken kann.
Vor etwa sechs Jahren kam ein gut zweijähriger Junge, der seit seinem ersten Lebensjahr unter schweren Schlafstörungen litt. Seine Eltern waren verständlicherweise erschöpft und verzweifelt.
Jede Nacht erwachte er mindestens alle 2-3 Stunden – ohne offensichtliche Schmerzen, einfach wach und unruhig. Seine Wangen waren gerötet, sein Körper fühlte sich warm an. Wir konnten zu warme Nachtkleidung oder Decken als Ursache ausschließen.
Wir begannen mit einer intensiven homöopathischen Behandlung, in der wir zahlreiche Mittel ausprobierten, die seinem Zustand entsprachen.
Zuerst fiel uns Sulphur ins Auge: Das Kind war immer warm, trug am liebsten seine abgetragenen Lieblingsstücke und hatte eine Vorliebe fürs Schminken – all das passte perfekt zu Sulphur. Doch das Mittel zeigte keine Wirkung.
Auch Tuberculinum und Rhus toxicodendron schienen zunächst passende Ansätze zu sein, da er sehr gerne kalte Milch trank (1-2 Liter tgl.) und sich fast davon ernährte. Aber auch diese Mittel blieben wirkungslos.
Unsere Reise durch die Materia medica führte uns weiter zu Medorrhinum, das vor allem wegen seiner Abneigung gegen Socken und Schuhe im Winter interessant war. Doch auch hier: keine Besserung.
Dann kam der Frühling – und mit ihm eine völlig unerwartete Wendung. Der Junge entwickelte eine panische Angst vor Marienkäfern. Diese Reaktion war völlig untypisch für ihn. Er wuchs auf dem Land auf, war mit Tieren vertraut und zeigte keinerlei Scheu vor Insekten oder Spinnen.
Doch bei Marienkäfern schrie er die ganze Nachbarschaft zusammen. Dieses auffällige Symptom ließ uns aufhorchen. Hatten wir endlich den entscheidenden Hinweis gefunden?
Calcium hatte er natürlich schon bekommen, das bekannt ist für seine Angst vor Insekten.
In der Zwischenzeit war ein Buch von Peter Fraser erschienen: „Insekten in der Homöopathie“. Darin wurde unter anderem der Siebenpunkt-Marienkäfer, Coccinella Septempunctata, beschrieben. Die roten Wangen des Jungen passten, ebenso seine Zahnung (die jedoch nie auffällig war) und die Schlafzyklen von 2-3 Stunden – auch wenn diese eher im Zusammenhang mit Schmerzen beschrieben wurden.
Einen Versuch schien es wert zu sein. Und tatsächlich: Nach nur einer Gabe des Mittels in der C200er Potenz schlief der Junge endlich durch. Wir waren sprachlos. Das nächtliche Erwachen ist nie wieder aufgetreten.
Dieses Mittel war für den Jungen wie eine Art Akutmittel auf seinem Entwicklungsweg. Es wurde bei einer späteren Gelegenheit noch einmal wiederholt, aber es war klar, dass es nur temporär nötig war.
Er war ein kleiner Jungen, der vorübergehend zu viel Marienkäferinformation in sich hatte.
Wie es dazu kam, kann man nur vermuten.
Er bekam zwar gerade Backenzähne, und das Mittel ist bekannt für neuralgische Zahnschmerzen. Obwohl er ja eigentlich nicht unter Zahnschmerzen litt ...
Nicht völlig ungewöhnlich, aber in diesem Fall interessant, dass der Junge Tomaten liebte vom ersten Tag an, wo er feste Speisen zu sich nehmen durfte. Inzwischen wusste seine Mutter, dass es wohl nicht der Geschmack, sondern eher die Farbe war, die das Kind faszinierte.
Außerdem war die Wohnsituation der Familie nicht ideal. Die Besitzverhältnisse hatten sich verändert und die Eltern waren schon seit der Schwangerschaft auf der Suche nach einer neuen und angemessenen Bleibe. In der Zwischenzeit wurde ihnen täglich deutlich klar gemacht, dass sie in ihrer aktuellen Wohnung unerwünscht waren. Und wie wir wissen, kriegen auch kleinste Kinder so etwas natürlich mit.
Passend dazu waren in der Arzneimittelprüfung des Marienkäfers von Ekaterina Charmurliyska aus Bulgarien häufig Themen von Naturkatastropen und abgerissenen Häusern und Vertreibung aufgetaucht.
Vielleicht kennen einige ja das englische Kinderlied „Ladybird, ladybird, fly away home, your house is on fire, your children all gone“.
(Für Musikliebhaber:innen hier eine sehr schöne Version davon auf Spotify: https://open.spotify.com/intl-de/track/4x3k6Voh2jxe4A32LOow7R?si=0f06d5f0ac5e454b
Der Junge, um den es in diesem Fall geht, ist inzwischen acht Jahre alt und hat das Mittel nie wieder benötigt. Heute ist Sepia sein passendes Mittel, das bei später aufgetretenen Wachstumsschmerzen und immer wiederkehrendem, nicht infektiösem Husten geholfen hat.
Dieser Fall zeigt, wie tiefgründig und individuell die homöopathische Behandlung sein kann. Manchmal führen uns ungewöhnliche Symptome wie die Marienkäfer-Phobie zu einer Lösung, die wir nie erwartet hätten.
So ist das mit der Herangehensweise an klinische Themen: Man kann mit den üblichen Verdächtigen richtig liegen - muss aber nicht. Es gibt immer wieder Überraschungen und wir lernen regelmäßig, neue Mittel in unser Repertoire aufzunehmen.
Das ist auch gut so, sonst würde es uns vielleicht noch irgendwann langweilig?😘
Im Kurs “Schlafstörungen“ beschäftigen wir uns damit, welche homöopathischen Arzneien, NEMs und praktischen Tipps in der Praxis wirklich helfen.