Rechtes oder linkes Ohr!?

Heute widmen wir uns einem ganz wichtigen Thema in der homöopathischen Praxis: dem (Zu)Hören.

Inkl. einem wichtigen Tipp, wie Du Informationen richtig an Dein Gehirn leitest, indem Du das richtige Ohr nutzt.

Vor vielen Jahren fragte mich einmal eine Schulfreundin meines Sohnes, auf welches Sinnesorgan ich am ehesten verzichten könnte, wenn ich mich entscheiden müsse. Die Entscheidung, obwohl nur hypothetisch, ist mir sehr schwer gefallen. Sind nicht alle Sinne elementar und absolut notwendig? Hätte die Evolution sie sonst so perfektioniert? Schweren Herzens habe ich den Geruchssinn gewählt und hatte augenblicklich Phantasien von prophylaktischem Dauerlüften und horrenden Heizkosten im Kopf, direkt gefolgt von der Wahnidee, niemals den Baby-Duft meines damals noch ungeborenen Enkelkindes riechen zu können.

Ich war natürlich in Gedanken alle Sinne durchgegangen. Den Hörsinn zu verlieren - dafür hätte sich die junge Fragestellerin entschieden - würde für mich Höchststrafe bedeuten.

Aber was ist es, was den Hörsinn so unverzichtbar für mich macht?

Ich könnte Gebärdensprache lernen. Aber nicht mehr Zwischentöne heraushören. Ich könnte wenigstens noch lesen. Aber keine Musik mehr hören. Ach, ich könnte meinen Beruf nicht mehr ausüben, die Vögel nicht mehr zwitschern hören, es wäre ewige Stille, ewige Nacht um meine Ohren. Isolation. Ein kleiner Tod.

Verbindung zwischen Herz und Ohr

Sind Herz und Ohr verbunden? Können wir in gewisser Weise auch mit dem Herzen hören? Vielleicht braucht man dafür gar keine Ohren? Was erzählen mir meine Ohren denn so jeden Tag? Erzählen sie auch von Liebe? Oder von Freiheit? Kann ich immer noch mit dem Herzen hören? Oder können das nur Kinder und Dichter?

Wenn ich im Garten oder im Wald an einem stillen Sommertag dem auf- und abschwellenden Rascheln des Windes in den Bäumen lausche, dem Gezwitscher der Vögel, dem Summen und Zirpen der Insekten, und mich das dann manchmal wie ein Kokon umhüllt, werde ich für kurze Zeit Eins mit meiner Umgebung - kleine Glücksmomente.

Glücksmomente und eine tiefe Verbundenheit empfinde ich auch in Gesprächen mit meinem Sohn, auch wenn er längst erwachsen ist. Vielleicht die Folge davon, dass ich immer ein “offenes Ohr” für ihn hatte, wenn er mir etwas sagen wollte? Dass ich seine kindlichen Probleme, Fantasien, Gedankenspiele nie als kindisch und unwichtig empfunden und abgetan habe? Oder in Gesprächen mit Astrid, zum Beispiel wenn ich einen Gedanken habe und sie spricht ihn im nächsten Moment aus, oder umgekehrt. Wir scherzen dann manchmal, dass unsere Gehirne synchronisiert sind.

Mein Ohr, meine Geschichtenerzählerin

Oft erzählt mein Ohr mir aber auch andere Geschichten. Banale Geschichten auf der Informations- und Sachebene, die wahrscheinlich notwendig sind, um den komplizierten Alltag, den Beruf, die Freizeit, die Rente im 21. Jahrhundert zu regeln. Arzthelferinnen, Servicekräfte und Call-Center-Mitarbeiter, deren Worte freundlich und verbindlich erscheinen, wenn man ihren einstudierten Ton nicht erkennt und das aufgesetzte Lächeln persönlich nimmt. Die Verbindlichkeit besteht oft nur im Moment der Kommunikation. Ich will das nicht negativ bewerten. Freundlichkeit im Namen der Zivilisation ist auf jeden Fall zu befürworten, auch wenn sie oberflächlich und nicht persönlich gewidmet ist. Aber sie hinterlässt manchmal einen schalen Nachhall.

Das wichtige zwischen den Zeilen

Manchmal erzählt mein Ohr mir auch Geschichten mit Botschaften zwischen den Zeilen. Geschichten, die die Erzählenden oft selbst nicht zu kennen scheinen oder die sie nicht kennen wollen, weil sie Angst vor den Konsequenzen haben, die sie daraus ziehen müssten, wenn sie die Botschaft ihrer eigenen Geschichte an die Oberfläche ihres Bewusstseins ließen. Manchmal möchte ich dann dem Sprecher entgegenschleudern: Nein! Das meinst Du nicht! Ich möchte hören, was Du wirklich meinst, fühlst, denkst! Das geht natürlich nicht, und ich stelle vielleicht eine tiefergehende Frage. Manchmal gelingt es, manchmal auch nicht. Und dann werden Ausflüchte gesucht, Umwege benutzt, die nicht zum Ziel führen. Manchmal ist das Dickicht um die Wahrheit hinter dem gesprochenen Wort einfach zu dicht geworden im Laufe der Zeit. Man hört nicht mehr, was man selbst sagt oder andere sagen, oder man weiß nicht mehr, was es eigentlich zu bedeuten hat. Oder man hat Angst davor, weil dunkle und gefährliche Geheimnisse geschützt werden müssen.

Hör Dir doch mal selber zu

Manchen Menschen würde ich auch gern den Rat geben, sich selbst einmal zuzuhören. Besonders, wenn jemand immer das letzte Wort haben muss, egal ob er noch etwas zu sagen hat oder nicht. Oder bei Menschen, deren Worte schroff und verletzend sind, weil sie aufgrund ihrer Autorität oder ihres Wissensvorsprungs meinen, ein Recht dazu zu haben, andere mit Worten klein zu machen.

Wie erfreulich, wenn es anders ist. Bei besten Freunden zum Beispiel. Es muss wenig versteckt werden. Das Gesicht muss gewahrt bleiben, natürlich. Aber man kann im Großen und Ganzen Farbe bekennen, Schwächen zeigen und Klartext reden. Sonst wäre man nicht beste Freunde. Man vertraut sich. Aber selbst unter Freunden gibt es nur wenige, die auch ein waches Ohr haben und hinterfragen können, was sie da hören. Das sind dieselben, die die Geschichte bei der Erzähler:in lassen können und nicht ihre eigenen Erfahrungen aus dem heraushören, was ihnen erzählt wird, das Erzählte nicht mit dem abgleichen, was sie von sich selbst kennen und dann in diese Form pressen. Wenn man sich so gehört, verstanden, geborgen fühlt, kann das eigene Bewusstsein, die Auseinandersetzung mit sich selbst manchmal Flügel bekommen.

Ohren auf

Und dann gibt es noch diese seltenen spontanen Situationen mit Fremden, bei denen man mit seinem Anliegen nicht nur Gehör, sondern echtes Verständnis findet. Auch das sind kleine Glücksmomente in meinem Leben. Letztens hatte ich noch so ein Erlebnis. Ich wollte mir eine neue Brille aussuchen und erkannte das Lächeln der jungen Optikerin augenblicklich als unverfälschte Freundlichkeit abseits der Zivilisationsregeln. Ich brachte mein Anliegen vor, meine Wünsche sowie die dazugehörigen Unsicherheiten. Und ihre Worte berichteten mir zwischen den Zeilen nicht nur von Brillen, Gesichtsformen und Materialien, sondern auch von Interesse und Verständnis und der Freude daran, mit Menschen zu tun zu haben, sie zu beraten und das eigene Wissen nutzbringend einsetzen zu können. Ein paar Minuten vorher beim Sehtest mit ihrer Kollegin war die Botschaft noch eine ganz andere gewesen: Ich reagiere auf nichts, außer auf Dinge, die sich auf den Sehtest beziehen. Und ich lächle nicht. Ich tausche auch keine Höflichkeitsfloskeln aus, damit das klar ist. Verstanden? Das hat sie natürlich nicht gesagt, aber so deutlich zwischen den Zeilen rüber gebracht, dass sogar mein rechtes Ohr es verstanden hätte, wenn das linke taub gewesen wäre.

Über den richtigen Einsatz Deines Ohres in der Homöopathie Praxis

Das ist auch eine interessante Geschichte. Hast Du schon einmal mit deinen beiden Ohren getrennt voneinander experimentiert? Telefoniere einmal bewusst mit dem rechten und dann mit dem linken Ohr. Wir hören die gleichen Worte, unsere Ohren erzählen aber eine jeweils andere Geschichte.

Wir wissen, dass die Hörzentren beider Gehirnhälften akustische Reize unterschiedlich verarbeiten, wobei die linke Hirnhälfte dominant ist bei der Dekodierung und Verarbeitung von Sprachsignalen und kurzen Tönen, die rechte Hirnhälfte ist besser bei der Verarbeitung von Musik und langen Töne.

Die Verarbeitung von Sprache läuft also überwiegend über das rechte Ohr: Sprache, Ratio, Logik, Analyse usw. Das linke Ohr wird überwiegend von der rechten Hirnhälfte innerviert, welche “zuständig” ist für Kreativität, Spielen, Neugier, Intuition, Risiko, Synthese, Überblick usw.

Mit Patienten telefoniere ich normalerweise mit dem linken Ohr. Sie möchten nicht nur Termine abmachen, sondern auch mal schnell wissen, welches Mittel aus ihrer homöopathischen Hausapotheke sie in einer akuten Situation nehmen könnten. Höre ich mir ihre Geschichte mit dem rechten Ohr an, muss ich überdurchschnittlich häufig um Geduld bitten, weil ich nicht sofort das richtige Mittel weiß, sondern erst überlegen und dann zurückrufen muss. Mit dem linken Ohr bin ich sensibler für die Informationen zwischen den gesprochenen Worten, die Botschaft hinter der Information auf der Sachebene, und kann dann schneller das passende homöopathische Mittel nennen. Denn mit dem linken Ohr nehme ich die unterschwellige Gereiztheit, Ungeduld, das Selbstmitleid, die Überforderung oder irgendetwas anderes leichter aus dem Kontext heraus als mit dem rechten. Das sind die Informationen, die mir die Mittelwahl erleichtern. Mein linkes Ohr lässt mich eher einen Blick hinter die vordergründigen Symptome des Patienten werfen.

Bei Botschaften, die man über das rechte Ohr bekommt, kann man sich besser Termine, Zahlen und Fakten merken. Wenn man also mit seiner Steuerberaterin telefoniert oder telefonisch einen Flug bucht, ist das rechte Ohr besser geeignet.

Probiere es aus:

Falls Dir das zu weit hergeholt erscheint, mach mal ein Experiment mit den Ohrstöpseln Deines Smartphones beim Musikhören. Höre Deine Lieblingsmusik 15 Minuten lang nur mit dem rechten Ohrstöpsel und dann 15 Minuten lang nur mit dem linken. Optimalerweise schaltet man dabei auf Mono. Mach es Dir bequem und sorge dafür, dass Du nicht gestört wirst.

Welche der beiden 15 Minuten waren angenehmer? Konntest Du Dich rechts oder links besser auf die Musik konzentrieren? Wann konntest Du Dich besser entspannen?

Ich habe es ausprobiert und würde sagen, mit dem linken Ohr ergreift mich die Musik emotional tiefer. Ich habe mehr Assoziationen und sogar Einfälle für die Lösung von kleinen Problemen, die ich schon länger mit mir herumtrage, während ich beim Hören mit dem rechten Ohr eher abschweife, das Geschnatter im Kopf nicht zum Schweigen bringe und mich nicht so leicht auf die Musik einlassen kann.

Auf welchem Ohr bist Du taub?

Ich habe auch gelesen, dass schwerhörige Kinder es in der Schule schwerer haben, wenn das rechte Ohr (stärker) betroffen ist. Sie bekommen zwar alles auf der Sachebene mit, aber diese Zwischentöne fehlen ihnen vielleicht beim Einordnen, vielleicht auch im Zwischenmenschlichen.

Auch interessant, dass seit etlichen Jahren das "Vier-Ohren-Modell" von Friedemann Schulz von Thun an allen allgemeinbildenden Schulen ab den mittleren Bildungsgängen auf dem Lehrplan steht. Da wird zwar nicht zwischen rechtem und linkem Ohr unterschieden, sondern zwischen verschiedenen Botschaften, die aus ein- und demselben Wortlaut herausgehört werden können. Je nachdem, auf welchem "Ohr" wir gerade gut hören oder auf welchem "Ohr" wir momentan vielleicht taub sind. Aber das ist eine andere Geschichte …

Gute Anamnese bedeutet gutes Zuhören

Du merkst vielleicht, das Thema Hören spielt eine große Rolle in Deiner Praxistätigkeit. Nicht nur, wie höre ich gut zu, sondern auch, wie höre ich genau zu (Stichwort: in den Worten des Patienten), aber auch wie erfahre ich das, was ich hören muss um das passende Mittel zu verschreiben. 

Mit genau diesen Themen beschäftigen wir uns beim Mai Salonabend “Spurensuche”. Dieses Mal dreht sich alles um die akute Verschreibung. Wir verraten Dir, mit welchen Fragen und Tricks wir schnell und sauber das passende Mittel finden. Als besonderen Bonus gibt es dieses Mal eine Checkliste mit den besten, hilfreichsten Fragen für Deine Akutanamnesen. Alle weiteren Infos findest Du hier: Webinar (11.05.) Anamnesetechnik in der homöopathischen Praxis

Du kannst entweder live dabei sein und/oder die  dauerhafte Aufzeichnung schauen. 

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Das Herz als Hoffnungsträger bei Panikstörungen

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Geburtstagspost für Samuel Hahnemann