Das hahnemannsche Kaffeeverbot
Wir haben eine deutliche Vermutung, warum Hahnemann Kaffee, Petersilie, Parfum und vieles andere bei der Behandlung chronisch Kranker verboten hat …
Uns interessiert speziell das Kaffeeverbot, das einige Homöopath:innen ihren Patient:innen immer noch auferlegen.
Was hat es damit auf sich?
Die Aussagen Hahnemanns zu Kaffee sind divers.
Er empfiehlt einerseits häufige Gaben kleiner Mengen starken Kaffees bei Unwohlsein durch Magenüberladung und wenn der Magen sich nicht aus eigener Kraft helfen kann, um den Speisenbrei nach oben oder unten “los zu werden”.
Weiter empfiehlt Hahnemann Kaffee bei übermäßiger Freude (Fn. zu § 26 Org.). Da scheint aber schon das Ähnlichkeitsprinzip reinzuspielen, sonst passt das nicht (dazu später unten mehr).
Hahnemann und der Kaffee
Hahnemann warnt vor Kaffee bei chronischer Müdigkeit. Denn auf starken Kaffee erfolge zunächst “Uebermunterkeit (Erstwirkung), aber hintennach bleibt lange Trägheit und Schläfrigkeit zurück (Gegenwirkung, Nachwirkung), wenn diese nicht immer wieder durch neues Kaffeetrinken (palliativ, auf kurze Zeit) hinweggenommen wird.” (§ 65 Org.)
Alles nachvollziehbar - zumindest für die Kaffeetrinker:innen unter uns.
Weiterhin empfiehlt Hahnemann Kaffee, Campher und Ipecacuanha bei Opiumvergiftungen. (Fn. zu § 67 Org.)
Für Hahnemann ist Kaffee also eine arzneilich wirkende Substanz, die er gezielt einzusetzen weiß.
(Wobei die Ketzerin in mir da ja denkt: Ist das nicht das verbotene und ganz schlimme Contrariumprinzip?!? ;-) Und komisch, dass da die Sekte der neunmalklugen sogenannten Skeptiker:innen noch nicht drauf gekommen ist …)
Was steht im Organon zum Kaffee?
Allerdings, bei der Behandlung der meisten chronisch Kranken empfiehlt Hahnemann tatsächlich, Kaffee zu meiden (§ 260 Org.).
Aber nicht nur den Kaffee!!! Sondern auch schwarzen Tee, Kräutertee, Kräuterlikör, Punsch, gewürzte Schokolade, Parfum, duftende Blumen, Mundwasser, Riechkissen, stark gewürzte Speisen und Saucen, gewürztes Backwerk (Achtung! Dies ist ein Adventskalender! ;-)), Vanille, rohe Kräuter in Speisen, Wurzelgemüse, Sellerie, grünen Spargel, Sprossen, Sauerampfer, Zwiebeln, Salate, alten Käse, Schweinefleisch und Schweineschmalz, Gänse- und Entenfleisch und -fett, Kalbfleisch, saure Speisen, Salate aller Art, Zucker, Salz und unverdünnte Spirituosen.
Und er geht noch weiter: Stark beheizte Wohnräume, schaffwollene Hautbekleidung, sitzende Lebensart, Nachtleben, langer Mittagsschlaf, Lesen im Liegen, erotische Literatur, Masturbieren, leidenschaftliches Spielen usw. sind auch verboten.
Kaffee und Pfefferminz
Was in unseren Praxen übrig geblieben ist, ist das Kaffeeverbot, und manchmal Menthol und Pfefferminze in der Zahnpasta.
Wenn Hahnemann noch lebte und von unseren heutigen Belastungen wie Feinstaub, Konservierungsstoffen, Säuerungsmitteln, Geschmacksverstärkern, Strahlungsbelastungen usw. wüsste, wenn er unser Medienverhalten und unsere überwiegend sitzende Lebensweise kennen würde, könnte er sich wahrscheinlich vorstellen, warum wir auf den ganzen Rest seiner Verbote jetzt pfeifen und nur das Kaffeeverbot beibehalten, als das Hahnemannsche Feigenblatt sozusagen
Woher kommt die Einschätzung Hahnemanns, dass Kaffee in bestimmten Zuständen schädlich sein kann?
Klar, er wusste um die aufputschende Wirkung.
Vielleicht spielte da auch noch die Kaffeeprohibition von 1766 Friedrichs des Großen rein? Kaffee machte damals dem Bier als beliebtestem Getränk Konkurrenz. Es entstanden Kaffeehäuser, wo sich Dichter, Gelehrte, Philosophen und sonstige für die Staatsräson potentiell gefährliche Individuen trafen. Diese Individuen ließen sich lieber vom Kaffee anregen statt vom hopfenhaltigen Bier schläfrig machen. Dazu muss man wohl noch anmerken, dass der Kaffee damals wohl aufgrund anderer Röstmethoden deutlich stärker anregend wirkte als heute.
Und das mit dem Rest, den Kräutern, dem Gemüse und den Gewürzen?
Hahnemann war selbstverständlich ein Kind seiner Zeit. Er war sehr belesen und bewandert, was die medizinischen Strömungen und Erkenntnisse seiner Zeit anging.
1780 veröffentlichte der schottische Arzt John Brown ein neurophysiologisches Körper- und Krankheitskonzept, das in ganz Europa Aufsehen erregte.
Dieses neuartige Konzept heißt bis heute Brownianismus.
Hahnemann & der Browianismus
John Brown war übrigens ein Schüler von William Cullen, durch dessen Beschreibungen von Malaria und Chinarinde Hahnemann zu seinem Chinarinden-Experiment angeregt wurde.
Jedenfalls - bei diesem neuartigen Krankheitskonzept Browns handelte es sich um eine “Reizlehre”, eine “Erregungstheorie”.
Derzufolge ist nur eine mittlere Erregung gesund, weshalb man jede Krankheit entweder durch Stimulation oder Sedierung therapieren sollte, um die Lebenskraft zu stärken.
Der Begriff der Lebenskraft ist also keine Wortschöpfung von Hahnemann, wie viele glauben, sondern er wurde populär durch den Brownianismus!
Bei den durch zu hohe Erregung (Sthenie) entstandenen Krankheitszustände sollte man jegliche Reize herunterfahren.
Da werden dann genau die Reize aufgezählt, die wir aus § 260 und seiner Fußnote kennen. Aber auch Aderlass, Beruhigungsmittel und anderes, wogegen sich Hahnemann scharf wehrt, wie wir wissen. Bei den Nahrungsmitteln und den Lebensgewohnheiten übernimmt Hahnemann die Brownschen Empfehlungen jedoch.
Bei den als Untererregbarkeit (Astenie) eingestuften Krankheitszuständen empfiehlt Brown Stimulantien wie Moschus, Kampfer, Opiate, Kaffee und Alkohol.
Hahnemann übernimmt hier zumindest den Alkohol - und hier setzt er auch starken Kaffee ein, wie oben in den Beispielen beschrieben.
Fazit
Ich bin mir sicher, dass Hahnemann sich bei Brown mit einem großen Teil seines Menschen- und Krankheitsbildes wiederfand, oder dass er es vor diesem Hintergrundwissen entwickelt hat. Dafür spricht schon, dass er das Konzept der Lebenskraft übernommen hat.
Und dann fällt mir auch der § 26 Org. wieder an, der mir bisher immer wie etwas aus einer anderen Sphäre vorkam. Wo ich jedesmal beim Lesen dachte: Wo hat er das nur her, das sind doch nicht die typischen Worte Hannemanns?! ;-) Schau mal selbst nach 🙂